„Madam! Picture, please!“

Ich laufe durch die Straßen Maheshwars. Das rhythmische Klackern der Webstühle klingt in meinen Ohren. Zaghaft, um nicht zu stören, blicke ich  in die Stuben der bunten Häuser. Die riesigen, aus Holz gefertigten Gestelle stehen dicht an dicht. Die Frauen und Männer blicken kurz auf von ihrer Arbeit. Ein freudiges Lächeln huscht über ihre Gesichter in meine Richung. Mit gefalteten Händen grüße ich: „Namaste“ kommt es wie gewohnt aus meinen Mund; etwas kräftiger jedoch als sonst, um das Surren der Webstühle zu übertönen. Ich halte inne, beobachte das Treiben. In Windeseile saust das mit Garn bestückte Schiffchen von rechts nach links und wieder zurück: links – rechts -links – rechts – links. Immer quer durch die waagerechten Fäden. Hin und her, für die Augen kaum fassbar. Die flinken Hände und Füße der Weber wissen genau, was sie tun. Schnell und doch präziese bahnen sie sich sprichwörtlich ihren Weg bis zum fertigen Saree. Je nach Ausführung und Verzierung dauert es zwischen einem und fünf Tagen, bis das sechs Meter lange und einen Meter breite Kleidungsstück fertig ist, das noch heute von der Mehrheit der indischen Frauen getragenen wird.

Gerade jetzt zur Jahreswende strömen indische Familien scharenweise nach Maheshwar. Der kleine Ort am Narmada Fluss ist nicht nur für die Handweberei landesweit bekannt. Maheshwar ist vor allem auch Wallfahrtsort vieler Hindus, die hier Lord Shiva in einem der zahlreichen Tempel ihre Ehre erweisen. Einmal hier ergreifen viele die Gelegenheit eines reinigenden Bades im Narmada, der neben dem Ganges einer der sieben heiligen Flüsse Indiens ist. (Als ich Ende November in Rishikesh Station machte, nahm auch ich ein Bad im heiligen Fluss Ganges. Aus Neugierde. Und weil ich es einem Freund versprochen hatte. Quasi stellvertretend für ihn. Jedenfalls befreit nach hinduistischem Glauben ein Bad in einem der heiligen Flüsse von allen Sünden – etwa so wie der einstige Ablasshandel der katholischen Kirche. Nur dass es hier ganz ohne Geld funktioniert. Während ich nach wenigen Sekunden vor Kälte bibbernd wieder an Land war, vollziehen viele Hindus mitunter minutenlang dauernde Rituale. Mit einem kleinen Messinggefäß etwa gießen sie sich das heilige Wasser dreimal über ihren Kopf, während sie in Richtung der Sonne stehen und beten.)

Fotozeit

Als allein reisende Frau mit heller Hautfarbe ist man in Indien irgendwie immer eine Attraktion und entsprechend selten alleine. Ungewollt. Denn obwohl ich mich mit Kurta und weiter Hose so gut wie irgend möglich ins Allgemeinbild einzugliedern versuche, falle ich eben doch auf. Drei-, viermal täglich, oft jedoch häufiger, werde ich nach einem Selfie gefragt. In einigen Fällen kann ich kaum schnell genug reagieren und der Arm der mir völlig unbekannten Person ist bereits um meine Schulter geschwungen. Freundlich bestimmt versuche ich dann mit einigen Worten Hindi, die ich entlang des Weges aufgeschnappt habe, zu erklären, dass ich das nicht möchte. Etwas verwirrt gucken sie mich dann an: „Madam, please!“ Mein Gesicht hunderte Male irgendwo im Internet zu wissen bereitet mir irgendwie Unbehagen. Ich bleibe standhaft. (Das hindert die Menschen hier aber nicht daran, mich um ein Portrait von sich selbst zu bitten. Stolz posieren sie dann vor meiner Kamera und begutachten staunend das Ergebnis.)

Die Sache mit den Selfies ist auch hier im kleinen, beschaulichen Maheshwar nicht anders. Nicht viele westliche Touristen verirren sich hierher. Und noch weniger bleiben gleich für einige Tage, so wie ich. Für mich jedoch schien es der perfekte Ort, um ins neue Jahr zu starten, inne zu halten und ein paar Tage auszuspannen. Die vorhergehenden Wochen waren indisch turbulent und geprägt von vielen Stunden im Zug (Inklusive dazugehörigem Warten auf den Zug – gerne auch ein paar Stunden. Und ich rede hier nicht von ein oder zwei Stunden. Drei sind Standard, vier oder fünf nicht selten. Doch auch acht, neun, zehn Stunden Verspätung kommen regelmäßig vor.) und jeder Menge neuer Eindrücke.

Ich wollte eine kleine Pause einlegen, abseits der üblichen Touristenroute. Was ich fand, hätte ich mir vorher im Traum nicht ausmalen können: In meinem Gästehaus gehörte ich schon nach zwei Tagen quasi zur Familie. So eine Silvesternacht, in der man gemeinsam ums Lagerfeuer sitzt und auf das neue Jahr wartet (ganz ohne Alkohol und sogar ohne Feuerwerk oder sonstiges Tam Tam), schweißt irgendwie zusammen. Seither werden mir täglich neue Dinge zum Probieren gegeben (Süßigkeiten, Dahl Batti, Aloo Paratha, …), Bindis zwischen die Augenbrauen geklebt oder Ausflüge zu den umliegenden Sehenswürdigkeiten unternommen. Zum Abendbrot gehe ich meistens zu einem kleinen Restaurant, das eigentlich eher ein Kiosk ist. Hinter dem Verkaufsbereich lebt die Familie zu fünft und mit drei Generationen in einem Zimmer. Mutter und Vater schlafen in der Küche. Die zwei erwachsenen Kinder teilen sich in der Nacht zusammen mit der Oma das Wohn- und Esszimmer. Über beide Ohren strahlend empfängt mich Abend für Abend die gesamte Familie: „Come, come. Sit, sit.“ Oma redet dann immer Hindi mit mir – der Hüfte und dem Rücken gehe es nicht mehr so gut. Aber sonst ist alles ‚achha‘, also in Ordnung. Ihr Haar ist bereits etwas schütter und grau, die Augen jedoch wach und ihre Stimme laut und kräftig. Gelegentlich übersetzen Taniya und ihr Bruder für mich. Doch meistens geht es auch so. Ich helfe beim Kochen, lerne ein paar Kniffe der indischen Küche und werde zum Überbrücken des Hungers erst einmal mit Süßigkeiten versorgt. Unter zwei Stunden bin ich selten zurück in meinem Gästehaus, wo es dann noch mehr Süßigkeiten gibt (Inder lieben den Zucker und ihre Süßigkeiten!)

Zurück im Gästehaus lodert dann wieder das gewohnte Lagerfeuer (In der Nacht wird es hier in der Mitte des Landes, genauer in Madhya Pradesh, erstaunlich kalt). Die gesamte Familie sammelt sich dann im Innenhof. Gespannt lausche ich ihren Unterhaltungen. Auch wenn ich nichts verstehe, ist es schön, diesem Austausch beizuwohnen. Hier in meinem Gästehaus wohnen ebenfalls mehrere Generationen, sogar mehrere Familien zusammen in einem kleinen Haus. (In Indien bleiben die Söhne auch heute noch nach der Heirat bei ihren Eltern, um ihre eigene Familie zu gründen. Im Fall der Besitzer meines Gästehauses waren es zwei Söhne. Also wohnen die beiden Brüder, ihre Frauen und Kinder zusammen unter einem Dach. Weiterer Besuch aus der Verwandtschaft, dem engeren Freundeskreis, der ganz selbstverständlich auch zur Familie gehört, und die Angestellten leben alle auf engstem Raum. Und doch scheinen alle mehr als glücklich und zufrieden. Niemand spricht hier von Platzmangel.)

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