5416 Meter.

Die Luft ist dünn. Für jeden Schritt nach vorne würde ich am liebsten wieder zwei zurück machen. Der Weg von Thorung Pedi, einer kleinen Ansammlung von Hotels und Gästehäusern, zum Thorung La Pass ist gerade einmal fünf, vielleicht sechs Kilometer lang. Und doch brauche ich für diesen kurzen Abschnitt meiner mehr als zweihundertfünfzig Kilometer langen Tour vier Stunden. Immer wieder bleibe ich stehen. Der Saueratoffgehalt der Luft liegt hier oben, jenseits der fünftausend Meter, bei mageren fünfzig Prozent. Ich frage mich, warum ich das alles mache. Dann bleibe ich wieder stehen, atme tief in meine Lungen und blicke mich um: Groß und mächtig ragen die Berge links und rechts von mir in die Höhe. Sechs-, siebentausend Meter sind es vom Fuß bis zur Spitze. Die Schneebehangenen Gipfel reflektieren die strahlend helle Sonne. Meine Augen brennen. Wie betäubt von der Anmut und Schönheit trottete ich langsam weiter. Dann endlich sehe ich am Horizont ein paar farbige Tupfer: die für Nepal so typischen Gebetsflaggen. Jetzt sind es nur noch wenige Meter, bis ich am höchsten Punkt meiner Reise angekomme – dem Thorung La Pass auf 5416 Metern Höhe.

Weg in die Höhe

Doch bevor es soweit war, lagen schier endlose Kilometer vor mir. Meine Ausgangshöhe in Ngadi, dem Startpunkt meiner Wanderung: 930 Meter über Null. Zu wandernde Kilometer: 250, vielleicht ein paar mehr. Ich lief durch tropisch-grüne und fruchtbare Landschaften und streifte karge Kiefernwälder. Ich stoppte in kleinen Dörfern, probierte regionale Spezialitäten wie das Tsampa Porridge, aß Unmengen an Dal Bhat (Linsensuppe, Reis und Gemüse) und fiel jeden Abend vor Erschöpfung spätestens um neun ins Bett. Ich arbeitete mich hoch: Aus den 930 Metern wurden schnell 1400, dann 2000, 2500 und 3000. Schon nach fünf Tagen Wanderung hatte ich die magischen dreitausendfünfhundert – 3500 – Meter erreicht. Die Luft wurde jetzt merklich dünner und die Landschaft rauer. Die dicht bewachsenen grünen Wäldern vom Anfang verwandelten sich in kleine, dornige Büsche auf Knöchelhöhe. Auf meinem Teller fanden sich immer seltener Obst und Gemüse, dafür umso mehr Getreide. Die großen Berge mit sechs-, sieben- und achttausend Metern Höhe säumten fortan täglich meinen Weg.

In Khangsar, gut neunzig, vielleicht hundert Kilometer von meinem Startpunkt Ngadi entfernt, entschied ich mich nach zwei Tagen Pause (Zum einen musste sich mein Körper an die Höhe und den damit verbundenen geringen Saueratoffgehalt der Luft gewöhnen. Zum anderen hatte es geregnet und die Berge versteckten sich hinter schweren Wolken.) für einen Abstecher zum Tilicho Lake – dem am höchsten gelegenen See seiner Größe der Welt. Die Wanderung führte mich vorbei an Mondlandschaften, durch Gebiete mit Erdrutschgefahr und zeigte mir einmal mehr, wie wichtig das weit verästelte Netzwerk an Fußwegen für die Menschen in den Bergregionen Nepals ist. Autos oder Busse sind noch immer eine Ausnahme und gerade in der Monsunzeit komm der Verkehr durch Erdrutsche oft zum Erliegen. Auf dem Rücken, lediglich gesichtert durch einen Riemen um den Kopf, tragen die Porter deshalb alle möglichen Güter und Handelswaren täglich von A nach B. Am beeindruckendsten war dabei ein Mann, kaum größer oder kräftiger als ich, der ganze acht Matratzen durch das erwähnte Erdrutschgebiet buckelte. Ihn sicher und wohlbehalten im Tilicho Lake Base Camp (4200m) ankommen zu sehen, war die für mich größte Freude des Tages.

Azurblaues Wasser in luftigen Höhen

Es ist dunkel und kalt und doch sind mit mir bereits zwanzig, vielleicht auch dreißig andere Wanderer auf dem Weg zum Tilicho Lake. Zaghaft färbt sich der Himmel von schwarz zu dunkelblau. Die Sterne machen Platz für die Sonne, die langsam aber sicher die vom Schnee bedeckten Kuppen der Berge anstrahlt. Es dämmert. Ich bleibe stehen, beobachte das Schauspiel. Gekonnt ignoriere ich bei der überwältigenden Schönheit meine Kopfschmerzen. Oben angekommen, sind es noch einmal dreißig Minuten entlang einer Ebene bis zum See. Die letzten Meter schaffst du auch noch – denke ich. Etwas entkräftet aber glücklich erreiche ich Tilicho Lake – 4920 Meter über dem Meeresspiegel und so blau wie das Wasser in der Südsee. Soweit oben war ich davor noch nie. Allzu lange habe ich leider nichts davon. Stechende Kopfschmerzen und Übelkeit (erste ernstzunehmende Anzeichen der Höhenkrankheit) zwingen mich schon nach wenigen Minuten und ein paar Schnappschüssen fürs Fotoalbum zum Umdrehen. Zum Glück treffe ich hier auf Lottie, Sarah, Mat und Ed – einer Gruppe (Mit)Wanderer, mit denen ich seit ein paar Tagen die Abend in den Gästehäusern verbringe. Sie und ihre Guides kümmern sich rührend, helfen mir zurück ins ‚Tal‘ und sorgen dafür, dass ich nicht in Panik ausbreche. Was folgt ist der wohl schlimmste Kater meines Lebens, ohne dabei seit Monaten auch nur einen Tropfen Alkohol angerührt zu haben. Am Abend geht es mir schließlich besser. Die Kopfschmerzen verschwinden und der Appetit kehrt zurück. Später höre ich auch von anderen, denen es ganz ähnlich wie mir ging.

Etwas verunsichert ob der bevorstehenden Passüberquerung und erneuten Höhen von über 5000 Metern ziehe ich weiter in Richtung Thorung La. Ich genieße die Landschaft, freue mich über jeden Vogel (riesige Adler sind keine Seltenheit), jede Ziege und sonstiges Leben, das dieser unwirklichen Umgebung zu trotzen scheint. Bäume wachsen hier oben nicht mehr, selbst Büsche und Gras sehe ich nur noch selten. Hoch oben auf dem Pass gleicht die Landschaft eher der auf dem Mond: Geröll, Sand und Felsen dominieren das Bild. Und zu meinem Glück: ein strahlend blauer Himmel.

Zurück im Tal

Auf der anderen Seite des Passes sieht es landschaftlich gesehen nicht anders aus. Trotz der tieferen Lagen (ich bin zurück auf 3800 Meter) gibt es nur wenig Grün. Die Umgebung erscheint lebensfeindlich; Sand, Staub, viel Sonne und Wind begleiten mich für die nächsten fünzig, sechzig Kilometer. Ein Umstand, der sich auch in der Architektur widerspiegelt: Die Häuser haben ausschließlich flache Dächer, sind weiß angestrichen und stehen dicht an dicht, damit der Wind möglichst wenig Angriffsfläche hat. Der Kali Gandaki, ein Nebenfluss des Narayani (einer der vier großen Flüsse Nepals), sorgt für die nötige Bewässerung der Böden, auf denen hauptsächlich Apfel- und Pfirsichbäume wachsen.

Auf meinem Weg in Richtung Süden, immer entlang des Flusses, werde ich Zeugin einer weiteren Superlative: Zwischen Larjung und Kalopani, einem gut zehn Kilometer langen Abschnitt auf meiner Wanderung, befinde ich mich plötzlich und ohne es anfangs zu ahnen im tiefsten Tal der Welt. Während rechts von mir Dhaulagiri und links von mir die Annapurna in die Höhe ragen (beide Berge sind weit über 8000 Meter hoch), befinde ich mich gerade einmal auf ‚mickrigen‘ 2550 Metern – ein Unterschied von mehr als 5600 Metern. Beide Gipfel sind nur vierunddreißig Kilometer voneinander entfernt und an jenem Tag im Oktober wunderbar deutlich zu sehen.

Ich bleibe im Tal, erlebe wie das satte Grün Einzug in mein Wandererdasein hält. Nach zwei Wochen im Hochgebirge befinde ich mich schließlich wieder inmitten dichter Wälder. Auf der Speisekarte stehen endlich wieder alle möglichen Sorten an Obst und Gemüse und die Nächte sind warm und angenehm. Ich laufe in Richtung Süden, erlebe erneut, wie sich nicht nur die Landschaft sondern auch die Menschen und ihre Ethnien verändern. Die Straße (Holperpiste beschreibt es eigentlich besser), die auf dieser Seite des Passes einen noch viel stärkeren Einfluss auf das Leben der Menschen zu haben scheint, macht das Wandern unangenehm. Bei dem Versuch, sie zu umgehen, lande ich in einem Art Dschungel: Das Gras ist dreimal so hoch wie ich und der Regen von der Nacht zuvor ist ein Paradies für Blutegel. Entkräftet und ein wenig ratlos kehre ich nach zehn Kilometern zurück auf die Straße. An Weiterlaufen ist nicht zu denken – meine Füße sind zu nass und die Bisse der Blutegel wollen einfach nicht aufhören, zu bluten. In der Ferne höre ich einen Bus. Wie durch ein Wunder passe ich gerade noch rein. Dicht an dicht sitzen wir aneinander; es ruckelt, nicht nur ein bisschen. Der Geldeinsammler lehnt während der Fahrt aus der Tür. Ich habe Angst, er könnte jeden Moment hinausfallen. „No problem. Everything okay“ jubelt er mir entgegen, wenn der Bus mal wieder in Schieflage die Schlaglöcher durchfährt. Meine Beine zittern ein wenig vor Angst, als wir endlich in Tatopani ankommen. Mit mir im Bus saßen neben den vielen Einheimischen auch noch ein paar andere Wanderer aus dem Westen. Wir machen gemeinsame Sache, suchen uns ein Hotel und lassen den Abend in Tatopanis Hot Pools ausklingen.

1600 Meter bergauf

Am nächsten Morgen breche ich zu meiner letzten Etappe auf: vom Poon Hill aus soll man den besten Blick auf die gesamte Annapurna Range haben. Einziger Haken: 1700  Meter Höhenunterschied zwischen mir und Ghorepanie, dem Ort für die Super-Aussicht. Ich laufe los und komme gut voran. Nach nur zweieinhalb Stunden habe ich die Hälfte der Strecke und knapp 800 Höhenmeter geschafft. Hoch motiviert laufe ich nach einer kurzen Teepause weiter. Es fängt an, zu regnen. Meine Beine sind plötzlich schwer und müde. Nach über sechs Stunden bergauf bin ich endlich am Ziel. Ich esse mein gewohntes Dal Bhat und falle noch früher als sonst in mein Bett – am nächsten Morgen klingelt der Wecker um vier Uhr.

Es ist stockdunkel, als ich mich auf den Weg zum Poon Hill mache. Der Himmel ist klar und die Sterne samt Milchstraße unbeschreiblich schön. Als eine der ersten komme ich oben an. Ich kaufe mir einen Tee (geschäftstüchtig sind Nepalis zweifelsohne, früh am Morgen um fünf Uhr) und setze mich auf eine der Bänke. Langsam füllt sich der Hügel auf 3200 Metern Höhe. Bei Anbruch der Dämmerung sind so viele Menschen hier, dass ich meine Entscheidung beinahe bereue – die Ruhe und Stille auf der sonstigen Wanderung war mir um einiges lieber. Dann zeigen sich die ersten Berge im Sonnenlicht. Ein magischer Moment, eine neue Perspektive. Ich vergesse die Menschen um mich herum und genieße die letzten Auckenblicke, in denen ich den höchsten Bergen der Welt so nahe bin.

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